Strasse für Alle

Sebastian Herrman schreibt in seinem Buch „Gebrauchsanweisung fürs Fahrradfahren“  unter anderem darüber, dass er eine Art Gedankenleser im Gehirn haben sollte, um all die Gedanken und Ideen, die er im Flow des Radelns entwickelt, nach der Tour wiedergeben zu können. Denn nach dem Absteigen sind all die genialen Gedanken nur noch Gedankensplitter.

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Zwei Mal pro Woche fahre ich 55km zur Arbeit und zurück,  das sind etwa 7 Stunden pro Woche im Sattel. Es ist schön, nicht im Stau zu stehen, den Wald und die Wiesen zu riechen, sich auf wenig befahrenen Straßen bei hoher Durchschnittsgeschwindigkeit wie Superman auf Rädern zu fühlen. Der Wind pfeift unterm Helm, der Motor gibt beruhigende Geräusche ab und die Reifen singen ihr Lied. Du kennst die Wege, die Schaltpunkte, die optimale Linie durch die kleinen Orte mit ihren rechtwinkligen Straßen. Du ertappst Dich dabei, auf Autopilot zu fahren und hast dann kleine Schrecksekunden.

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Auf den Wegen abseits der Straßen und Orte hörst Du die Vögel singen, siehst Pferde, Ziegen und Schafe, und ab und zu kreuzen Rehe den Weg. Nach einer Weile kennst Du auch die Hundebesitzer, Spaziergänger, Eltern mit Kinderwagen, die überwiegend freundlich grüßen. Es geht rücksichtsvoll zu, die Welt ist in Ordnung.

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Positive Gedankensplitter bleiben; eine neue Geschäftsidee, Ideen für den Blog, Reiserouten gedanklich ausarbeiten, andere Wege für den Arbeitsweg ausprobieren, Lebensstil verändern, Auto abschaffen, Initiativen für eMobilität anstossen,  beim Radentscheid abstimmen, bei der Critical Mass aktiv werden, Argumente pro S-Pedelec für Politiker ausarbeiten – kurz, die Welt noch besser machen.

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Auf den größeren Landstraßen ist es anders, ganz anders. Die Karren stinken wieder. Auch an einem sommerlichen Morgen scheinen die Abschalteinrichtungen – auch bei Benzinern – aktiv. Die Autominister sollten mal Rad fahren, die Sache stinkt zum Himmel. Auch scheinen moderne Autos trotz hunderten PS keine Kraft am Berg zu haben. Niemand macht mal hinter Dir langsam, jeder glaubt, mit Schwung an Dir vorbei zu müssen, egal ob Gegenverkehr oder nicht. Sicherheitsabstand? Egal, der Stärkere kommt durch. Und innerhalb der Mittellinie in der Spur zu bleiben, ist ja kein Überholen, oder? Sogar Fahrschüler dürfen so fahren, der Fahrlehrer sitzt bräsig daneben. Im Geiste formulierst Du dann die böse Mail an die Fahrschule.

Kein Wunder, dass Du in diesem Augenblick daran denkst, dass alle 22 Stunden ein Radfahrer getötet und alle 36 Minuten ein Radfahrer schwer verletzt wird. In 70% sind die Autofahrer schuld ( Quelle: FAZ online ). Auf der Strasse gilt das Recht des Stärkeren. Die Argumente erinnern an die National Rifle Association in den USA: bei Amokläufen sei es doch gut, dass Schüler Schutzwesten trügen, im Zweifelsfall die Schule sofort verlassen und Lehrer bewaffnet seien. Man könne den Menschen den Waffengebrauch nicht verbieten, die Waffe sei ja nicht schuld. Genauso hohl klingt das Argument, Radfahrer sollten besser aufpassen und im Zweifel eher nachgeben. Niemand fordert dazu auf, dass die Stärkeren = Bewaffneten Rücksicht üben sollen. Autos sind wie Waffen! Beweise? Fahre einfach mit einem S-Pedelec vorschriftsmäßig auf der Strasse zwischen Butzbach und Hochweisel. Oder zwischen Linden und Langgöns. Ich nenne sie  „Straße der Idioten“.

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Beide Strassen haben einen kombinierten benutzungspflichtigen Rad-/ Fußweg. Mindestens 1 mal pro Fahrt kommt ein Autofahrer mit hoher Geschwindigkeit von hinten an, zwingt Dich mit 50 cm Abstand ganz an den rechten Rand, hupt und zeigt auf den Radweg. Ok, Unwissenheit, der kennt halt die Sache mit der StVO nicht. Aber selbst, wenn ich im Unrecht wäre: was geht im Kopf dieses Menschen vor, der andere in Gefahr bringt und nötigt, um selbstständig mit Gewalt ein Gesetzt durchzusetzen? Macht er das mit einer Pistole, ist es Lynchjustiz. Macht er das mit einem Auto, was ist es dann? Ist das etwas ganz anderes?

Du fängst an, Dich reinzusteigern. Weitere Gedankensplitter: es gibt in D etwa 70 Millionen Fahrräder und 64 Millionen Autos. Auf den 55 km Arbeitsweg über Landstraßen und Radwege sehe ich etwa 10 Radfahrer. Und mindestens 10 fahrende Autos pro Kilometer. In den Städten kann man 100 Autos pro Kilometer rechnen. Und alles redet von Kampfradlern.

Beim Verhältnis von 64 Millionen Autos auf 85 Millionen Bewohnern in Deutschland kann man schließen, dass tagsüber etwa 800.000 Autos in Frankfurt rumstehen. Und viele Leute inkl. Presse regen sich über 25.000 Mieträder auf, die die Stadt verschandeln würden.

Ein prominenter Stadtplaner aus Wien sagte: „auf den Straßen in den Städten bewegen sich die Autos auf 3 Spuren frei und ungehemmt und die Kinder spielen in Drahtkäfigen nebendran. Was zum Teufel ist denn los in unserer Gesellschaft? Ab welchem Zeitpunkt lief das denn völlig aus dem Ruder? Seit wann gilt der Grundsatz, dass öffentlicher Raum und die Straße ausschließlich fürs Auto da seien?

Ein Argument: die KFZ- Steuer. Schließlich trage man ja als Autofahrer das Geld zum Straßenbau alleine. Falsch! Die meisten Straßen wurden und werden von den Anwohnern gezahlt. Warum eigentlich lassen die zu, dass diese dann nur für Autos gemacht werden?

Es wird Zeit für ein Umdenken: die Straße ist für alle da. Radler, Fußgänger, Mann mit Handkarren. Wenn die baulich getrennt werden sollten, um so besser. Aber gleicher Raum für Alle!

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Und dann biegst Du wieder auf den Wiesenweg ein. Die ältere Dame mit dem ebenso alten Hund kommt Dir entgegen. Du machst langsam, grüßt, wirst von Frau und Hund freundlich zurück gegrüßt und die Welt ist wieder in Ordnung.

 

 


8 Gedanken zu “Strasse für Alle

  1. Danke für diesen Artikel! Genau das geht mir auf meiner Pendelstrecke auch oft durch den Kopf, ich kann es nur nicht so gut in Worte fassen.
    Es muss sich dringend etwas ändern, auch E-Autos werden die Situation nicht verbessern. Es braucht eine Werteänderung oder so etwas in der Art. Aber solange sich z.B. meine Arbeitskollegen beschweren, weil sie für 6km zur Arbeit wegen Stau 1h gebraucht haben, aber nicht auf die Idee kommen wie sich das ändern lässt, sehe ich da schwarz.

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  2. Bei so einem traumhaften Radweg würde ich auf Vorschriften pfeiffen und da drauf fahren.
    Oder sonst halt eine Leuchtweste bedrucken hinten mit «nein, ich darf nicht auf dem Radweg fahren»… Gute Fahrt und Gruss aus der Schweiz

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    1. Hi Helena, auf dem Bild ist einer der seltenen Momente, in denen dort kein Kinderwagen, Jogger, Hundeausführer usw. ist. Die Strasse ist eigentlich relativ wenig befahren, ist einigermaßen breit und gut einsehbar, es würde eigentlich gut passen. Um so weniger verstehe ich, dass die Reaktionen so sind wie beschrieben. Das mit dem Druck hatte ich auch schon im Sinn, glaube aber, dass auch das zu seltsamen Reaktionen führt.

      Martin

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  3. Hallo Speedpelecbiker,
    entweder wir S-Pedpelec-Fahrer sind aus dem selben Holz geschnitzt, oder du kannst Gedanken lesen.
    Bin seit fünf Monaten auch in diesem „elitären“ Club.
    Arbeits- und Reisegerät R&M Charger HS.
    Das mit den Gedanken, in die man sich beim Fahren verliert, kann ich nur bestätigen.
    Meistens drehen sich aber meine darum, wie man eine Lobby für das S-Pedelec aufbauen könnte.
    Die Unwissenheit der Masse und besonders der Politiker sollte schleunigst beseitigt werden.
    Bin für alle Schandtaten bereit.
    Sternfahrt nach Berlin oder Brüssel. Verkehrsminister und breites Publikum von der Ungefahrlichkeit und dem Nutzen des S-Pedelec überzeugen durch Probefahrten….
    Also S-Pedelec-Fahrer aller Länder, vereinigt euch. 🙂

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  4. Die Lage zu ändern scheint mir in nächster Zeit ausweglos. Das einzige was hilft ist das eigene Verhalten zu ändern.
    Und für mich lautet deswegen die Devise: wenn Autofahrer ungestraft gegen Regeln verstoßen können kann ich das auch. Das heißt: da wo ich keinen gefährde fahre ich auf dem Radweg oder mit der selben Geschwindigkeit wie die anderen Radfahrer. Auf der Straße fahre ich nichts rechts aussen sondern in der Mitte der Fahrbahn. So können die Autofahrer entweder gar nicht überholen oder wenn es geht überholen sie mit genügend Abstand.
    Das ist vielleicht im schlimmsten Fall eine Ordnungswidrigkeit aber es dient meiner Sicherheit.

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  5. Wieso soll das benutzen nicht erlaubt sein. S-Pedelecs haben doch Mofazulassung und dürfen daher außerorts auf Radwegen fahren.
    Innerorts bei Zusatzschild Mofa frei

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    1. Leider wurden schon ab 2017 viele S-Pedelecs als Kleinkrafträder L1e mit bauartbedingter Höchstgeschwindigkeit 45km/ zugelassen. Und damit gelten die gleichen Regeln wie für 200 PS Motorräder, nur die Führerscheinklasse ist eine andere. Als das in der EU beschlossen wurde, haben unsere Verantwortlichen einfach gepennt. Zwar nicht ganz so tief wie in Österreich, Italien oder Frankreich, aber schon ziemlich tief.

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